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Klassiker in der Schule


„A reader lives a thousand lives before he dies. The man who never reads lives only one.“ Diese Worte spricht Jojen Reed in George R.R. Martins Buchreihe „Das Lied von Eis und Feuer“. Doch was meint er damit?
Jedes Mal wenn wir ein Buch aufschlagen, tut sich eine neue Welt vor uns auf, noch unentdeckt oder bevölkert von Figuren, die wir schon kennen und lieben. Wir erleben Abenteuer, verlieben uns mit den Charakteren, fühlen mit ihnen und sind traurig, wenn wir die letzte Seite erreichen und sie wieder verlassen müssen.
Jedoch gibt es einen Ort, an dem vielen von uns das Lesen widerstrebt: Die Schule.
Womöglich liegt dies am Lesestoff den wir dort vorgesetzt bekommen. Klassiker. Diese alten, verstaubten Bücher, die doch überhaupt nicht mehr in unsere Zeit passen. Und die Sprache erst, das verstehen wir doch heute gar nicht mehr.
Natürlich gibt es Ideen, diese angeblichen Probleme zu lösen. Manche Verlage bieten mittlerweile sprachlich vereinfachte Versionen vieler Klassiker an. Schwierige Wörter werden entfernt, lange Schachtelsätze werden zu mehreren kurzen getrennt. Die Nachfrage nach Anpassungen von Literatur ist jedoch keineswegs neu. Der Schriftsteller Arno Schmidt beklagte dies schon 1963. Es sei, so sagte er, eine Frechheit, von der Kunst zu verlangen sich auf einen zuzubewegen. Wer große Kunst verstehend genießen wolle, habe sich gefälligst zu ihr hin zu bewegen. Und genau deswegen will ich dem Sinn solcher Anpassungen widersprechen. Denn genau diese Schachtelsätze, die schwierigen Wörter machen oft den Stil der Autor*innen aus und machten die Texte erst zu den großen Werken, den Klassikern, die sie heute sind.
Die Literatur scheint jedoch die einzige Kunstform zu sein, die für ihre Komplexität kritisiert wird. Weder von der Musik, noch von der Malerei oder dem Film wird gefordert sich den Wünschen der Rezipient*innen anzupassen. Aufwendige, komplexe Filme wie David Finchers „Fight Club“ sind durchzogen von Subliminalbildern und versteckten Botschaften. Und trotzdem wird „Fight Club“ für sein gewitztes Erzählen gepriesen, denn er fordert, dass wir aktiv mitdenken, anstatt uns einfach berieseln zu lassen.
Vielleicht sollten wir genau diese Einstellung übernehmen, wenn wir einen Klassiker lesen, die Schwierigkeit als Herausforderung sehen, die uns hilft unsere kognitiven Fähigkeiten zu entwickeln.
Doch zurück zur Schule. Denn genau in der Entwicklung dieser Fähigkeiten liegt der Sinn vieler schulischer Aktivitäten. Genau das verkannte die Gymnasiastin Naina als sie 2015 folgenden Tweet veröffentlichte: „Ich bin fast 18 und hab keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen. Aber ich kann ne Gedichtsanalyse schreiben. In 4 Sprachen.“ Naina brachte es so zu (kurzer) bundesweiter Berühmtheit und schaffte es sogar zu TV Total. Es scheint also viele zu geben, die Nainas Einstellung gegenüber der Schule zu teilen. Ich glaube aber, dass diese das Ziel der gymnasialen Oberstufe missverstehen. Entgegen von Nainas Behauptung werden die Schüler*innen sehr wohl auf das spätere Leben vorbereitet, aber nicht primär durch die Vermittlung von Wissen, sondern durch das Erlernen von Kompetenzen, wie der Fähigkeit sich ausdrücken zu können oder abstrahiert zu denken.
Letztere wird auch in der Bearbeitung schwieriger Lektüren ausgebildet. Zum Beispiel durch die interdisziplinäre Arbeit die benötigt wird um einen Klassiker wirklich zu verstehen. Die Einordnung in die geschichtlichen Hintergründe zur Zeit der Entstehung des Werkes, verleiht den Werken eine neue Bedeutungsebene. Dieser Effekt funktioniert umgekehrt aber ebenso, denn Geschichten helfen auch, eine Epoche und die darin vorherrschende Stimmung besser zu verstehen. Es ist z.B.  eine Sache, in einem Geschichtsbuch vom zerstörten Nachkriegsdeutschland zu lesen. Die Trümmerliteratur Wolfgang Borcherts aber schafft es, einen Einblick in die damalige Gefühlswelt zu geben. Dies erkannte auch der britische Essayist Thomas Carlyle, als er sagte, dass in Büchern die Seele aller gewesenen Zeit liege. Diese Seele bleibt uns aber verschlossen, wenn wir jedes Mal beim Anblick eines Klassikers abblocken und auf Verteidigungshaltung gehen.
Goethe sagte einmal: „Es gibt dreierlei Arten Leser: Eine, die ohne Urteil genießt, eine dritte, die ohne zu genießen urteilt, die mittlere, die genießend urteilt und urteilend genießt: Diese reproduziert eigentlich ein Kunstwerk aufs Neue.“
In diesem Ansatz liegt denke ich der Schlüssel zu Carlyles „Seele aller gewesenen Zeit“. Wenn wir zwar dem Werk gegenüber kritisch bleiben, uns aber doch darauf einlassen in die Geschichte einzutauchen und uns von ihr verzaubern zu lassen. Da aber vielen von uns oft die Motivation fehlt zum Buch zu greifen, ist es doch schön, wenn die Schule uns Geschichte näher bringt, uns in unserem Denken weiterbringt und wir dabei sogar noch eines von George R.R. Martins „tausend Leben“ leben.

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